An der HTWK wurde der Mandantschaft des Rechtsanwalts Dr. Arne-Patrik Heinze als Rechtsanwalt für Studienplatzklagen ein außerkapazitärer Studienplatz im Bereich Soziale Arbeit zum Wintersemester 2015/2016 zugewiesen. Das Studium konnte wunschgemäß begonnen werden.
[title] Verwaltungsrechtsweg bei Prüfungsanfechtungen gegen die Euro-FH (VG Hamburg, Beschluss vom 01.12.2015; Az.: 2 E 6030/15) [/title]
Rechtsanwalt Dr. Arne-Patrik Heinze hat für seine Mandantschaft erfolgreich beim Verwaltungsgericht Hamburg geklagt. Soweit Prüfungsleistungen an der Euro-FH angefochten werden, die für die Verleihung des akademischen Grades „Bachelor“ von Bedeutung sind, ist der Verwaltungsrechtsweg eröffnet. Entgegen der ursprünglichen Auffassung der Euro-FH ist nicht der Rechtsweg zu den ordentlichen Gerichten eröffnet. Zwar ist die Euro-FH privatrechtlich organisiert, jedoch ist sie bezüglich der Verleihung des Bachelorgrades und der damit verbundenen Prüfungsleistungen mit Hoheitsgewalt beliehen im Sinne des Art. 33 Abs. 4 GG. Während eine sogenannte Studienplatzklage bei der Euro-FH bei den ordentlichen Gerichten zu führen wäre, sind Prüfungsanfechtungen dem Verwaltungsrechtsweg zugeordnet, soweit sie auf den Bereich der Beleihung bezogen sind.
Zugang zu Gerichtsentscheidungen: Auch bei nicht rechtskräftigen Urteilen kann ein Anspruch der Presse auf Zugang zu anonymisierten Gerichtsentscheidungen bestehen (BVerfG: 1 BvR 857/15)
Ein Verlag wollte den Zugang zu einer Gerichtsentscheidung bezüglich eines anonymisierten Strafurteils des Landgerichts gegen den ehemaligen Innenminister eines Bundeslandes wegen Bestechungsdelikten. Das Verwaltungsgericht hatte den Landgerichtspräsidenten zur Herausgabe der anonymisierten Urteilskopie verpflichtet, während das Oberverwaltungsgericht den Eilbeschluss des Verwaltungsgerichts im Beschwerdeverfahren im Sinne des § 146 VwGO abänderte. Das Bundesverfassungsgericht hob den Beschluss des Oberverwaltungsgerichts wegen der sich aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG ergebenden Pressefreiheit auf.
Grundrechte sind zwar grundsätzlich klassische Abwehrrechte gegen den Staat, jedoch können sie ausnahmsweise auch als originäre bzw. derivative Leistungsrechte wirken. Soweit einfachgesetzliche Normen wie § 4 eines Landespressegesetzes auf Tatbestands- oder Rechtsfolgenseite verfassungskonform auslegbar sind, ist die einfachgesetzliche Regelung gegenüber der direkten Anwendung der Grundrechte als Anspruchsgrundlage vorrangig. Subsidiär können Grundrechte auch direkt als Anspruchsgrundlage im Verwaltungsrecht anwendbar sein – derivativ als Teilhaberecht oder originär.
Soweit es um Gerichtsentscheidungen geht, kann das öffentlich-rechtsstaatliche Interesse zudem derart ausgeprägt sein, dass ein Anspruch auf Zugang zu nicht rechtskräftigen Entscheidungen besteht.
[title] Studienplatzklage: Bei so genannten Studienplatzklagen Medizin fehlt bezüglich des Modellstudienganges Medizin in Aachen die Rechtsgrundlage zur Kapazitätsberechnung (OVG NRW, Beschluss vom 03. Juli 2015, Az: 13 B 113/15) [/title]
Nach elf Jahren Laufzeit des Modellstudienganges Humanmedizin und nach Ablauf der ursprünglichen Befristungsdauer ist die Berechnung der wahren Kapazität des Studienganges geboten, weil trotz Verlängerung hinreichende Erfahrungswerte bestehen. Die Kapazitätsverordnung ist unter anderem wegen der im Modellstudiengang Humanmedizin gegenüber dem üblichen Regelstudiengang Humanmedizin gesonderten Modalitäten für die Kapazitätsberechnung grundsätzlich nicht anwendbar. Der Modellstudiengang Humanmedizin unterscheidet sich vom Regelstudiengang Medizin in der Struktur, den Ausbildungsinhalten, den Ausbildungsformen bzw. den Veranstaltungsarten und der Dauer der Veranstaltungen grundlegend vom Regelstudiengang Medizin, so dass die auf den Regelstudiengang zugeschnittene Kapazitätsverordnung mit dem Ausgangspunkt eines vorklinischen Abschnitts nicht passt. Eine Zulassungsbeschränkung ist als wesentlicher Zugriff in die Berufsfreiheit aus Art. 12 GG einzustufen. Wesentliches ist vom Gesetzgeber zu regeln. Es Bedarf einer gesetzlichen Grundlage im Sinne des Vorbehaltes des Gesetzes. Je wesentlicher der Grundrechtseingriff ist, desto höher sind die Anforderungen an den Gesetzgeber, so dass mindestens die Schaffung einer untergesetzlichen Vorschrift wie einer Verordnung mit klaren Kapazitätsvorgaben erforderlich ist, wenngleich eine solche nur genügt, soweit Inhalt, Zweck und Ausmaß in einem formellen Gesetz geregelt sind.
Da die Kapazitätsverordnung gegenüber anderen Berechnungsmodellen für Studierende jedoch grundsätzlich studienbewerberfreundlich ist, wird sie in gerichtlichen Eilverfahren (den so genannten Studienplatzklagen Medizin) zunächst weiter für die fiktive Kapazitätsberechnung zugrunde gelegt. Soweit allerdings andere plausible Berechnungsmöglichkeiten denkbar sind, die zu einer höheren Kapazität führen, ist nicht an der Berechnungsmethode nach dem bisherigen (fiktiven) Regelstudiengang Medizin festzuhalten, sondern im Eilverfahren von einer erhöhten Kapazität bei so genannten Studienplatzklagen Medizin auszugehen (anders zum Teil für die Erprobungsphase des Modellstudiengangs an der Berliner Charité: OVG Berlin-Bbg., Beschluss vom 18. März 2014 - OVG 5 NC 69.13).
[title] Bund hatte tatsächlich keine Gesetzgebungskompetenz für das Betreuungsgeld („Herdprämie“): Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 21.07.2015 (Az.: 1 BvF 2/13) [/title]
Mit Urteil vom heutigen Tag entschied das Bundesverfassungsgericht über den Antrag auf abstrakte Normenkontrolle bezüglich des Betreuungsgeldes (wir berichten).
Wie sich bereits im April 2015 abzeichnete, wurde die formelle Verfassungswidrigkeit festgestellt. Zwar stellen die Regelungen solche der „öffentlichen Fürsorge“ im Sinne des Art. 72 Abs. 1 Nr. 7 GG dar, da dieser Begriff weit auszulegen ist. Die Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG sind jedoch nicht erfüllt, da die bundeseinheitliche Regelung nicht zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder zur Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse erforderlich ist.
a) Die Regelungen sind nicht zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet erforderlich. Selbst wenn der Argumentation gefolgt wird, dass Eltern mit Wohnsitz in Bundesländern, die eine ähnliche Förderung nicht vorsehen, schlechter stehen als diejenigen, die in förderungswilligen Bundesländern wohnen, kann das Betreuungsgeld dieser Ungleichbehandlung keine Abhilfe schaffen. Es fehlen nämlich Anrechnungsvorschriften für das Landeserziehungsgeld auf das Betreuungsgeld. Die Ungleichbehandlung bestünde daher fort.
Auch eine Alternative zur Drittbetreuung muss nicht geschaffen werden, um gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen. Das bundesstaatliche Sozialgefüge ist schließlich nicht gefährdet. Konkrete Ansprüche ließen sich darüber hinaus nicht aus Art. 6 Abs. 1 und 2 GG und Art. 3 Abs. 1 GG nicht herleiten, da durch das Betreuungsgeld keine Verfügbarkeitslücke in der Betreuung geschlossen werden solle. Es kann daher offen bleiben, ob Grundrechte überhaupt bei der Beurteilung des Art. 72 Abs. 2 GG bedeutsam sind.
b) Das Betreuungsgeld ist nicht zur Wahrung der Rechts- oder Wirtschaftseinheit erforderlich.
In den Regelungen zum Betreuungsgeld werden zusätzliche vergleichbare Leistungen in einzelnen Ländern unberührt gelassen, daher wird bereits keine Rechtseinheit geschaffen.
Ferner ist das Betreuungsgeld weder geeignet noch bestimmt, eine private Kinderbetreuung zu finanzieren. Dies gilt auch im Zusammenspiel mit weiteren Leistungen. Die Wirtschaftseinheit kann bereits aus diesen Gründen nicht gefördert werden.
c) Die Regelungen sind rechtswidrig und damit nichtig. Die formelle Verfassungswidrigkeit besteht. Es musste nicht entschieden werden, ob die Vorschriften mit den Grundrechten vereinbar sind, da dies eine Frage der materiellen Verfassungsgemäßheit ist.
[title] OVG Hamburg (Beschluss vom 28.05.2015 Az.: 2 Bs 23/15) bestätigt das VG Hamburg im Eilverfahren: Kein Flüchtlingsheim im ehemaligen Kreiswehrersatzamt in der Sophienterrasse [/title]
Das OVG Hamburg hat den Beschluss des Verwaltungsgerichts bestätigt. Die Beschwerde bleibt somit erfolglos. Eine Gemeinschaftsunterkunft für Flüchtlinge darf in dem ehemaligen Kreiswehrersatzamt zunächst nicht errichtet werden. Der Bereich ist im Bebauungsplan als besonders geschütztes Wohngebiet ausgewiesen. Die vollständige oder partielle Funktionslosigkeit dieser Festsetzung sei im Rahmen der Beschwerde nicht dargelegt worden. Es handele sich bei der Unterbringung der Flüchtlinge nicht um eine Wohnnutzung im baurechtlichen Sinne, weil es an der Eigengestaltung und an der Freiwilligkeit des Aufenthalts der Flüchtlinge fehle. Vielmehr gehe es um eine Anlage für soziale Zwecke. Eine derartige Anlage sei in einem besonders geschützten Wohngebiet nur als kleine Anlage allgemein zulässig. Insoweit seien die typischerweise von dem Vorhaben der beabsichtigten Art ausgehenden Auswirkungen maßgeblich. Kriterien seien unter anderem der räumliche Umfang, die Art und Weise der Nutzung und der vorhabenbedingte Verkehr. Gemessen daran handele es sich nicht um eine kleine Anlage.
Zur juristischen Aufarbeitung der ursprünglichen Entscheidung gelangen Sie hier.
[title] Prüfungsordnung einer renommierten brandenburgischen Universität ist verfassungswidrig: Der akademische Titel Bachelor of Laws ist derzeitigen und ehemaligen Studierenden zu verleihen [/title]
Das Verwaltungsgericht Frankfurt (Oder) erklärt § 2 Abs. 2 S. 1 der Prüfungsordnung Rechtswissenschaften im Eilverfahren inter partes für verfassungswidrig. Rechtsanwalt Dr. Arne-Patrik Heinze als Anwalt für Prüfungsrecht hat das Verfahren für seine Mandantin gewonnen.
Die Antragstellerin ist an einer renommierten brandenburgischen Universität als Studentin eingeschrieben. Gemäß § 2 Abs. 1 der Prüfungsordnung (nachfolgend PO abgekürzt) ist Studierenden auf Antrag seitens der Universität nach bestandener Bachelorprüfung der akademische Grad Bachelor of Laws zu erteilen. Die Antragstellerin hat alle gemäß § 8 Abs. 1 PO notwendigen Leistungen erbracht. Allerdings hat sie die Erste Juristische Prüfung nicht bestanden und erst nach dem Nichtbestehen den Antrag auf Verleihung des Bachelor of Laws gestellt. Bezüglich der Ersten Juristischen Prüfung läuft ein Widerspruchsverfahren. Die Universität als Antragsgegnerin hatte der Antragstellerin den Bachelortitel nicht verleihen wollen, weil in § 2 Abs. 2 S. 1 PO steht, dass den Titel nur erwerben kann, wer unter anderem im Zeitpunkt der Antragstellung die Erste Juristische Prüfung noch nicht endgültig nicht bestanden hat.
Rechtsanwalt Dr. Arne-Patrik Heinze hat für seine Mandantin in der Hauptsache eine Verpflichtungsklage auf Verleihung des Bachelor of Laws erhoben und dieses Begehren auch vorläufig im einstweiligen Rechtsschutz geltend gemacht, denn es war aus seiner Sicht unzumutbar, die Hauptsache ohne Studienabschluss und somit Bewerbungsmöglichkeiten in der Zwischenzeit abzuwarten.
Das Gericht ist der Argumentation des Dr. Arne-Patrik Heinze gefolgt und hat inzident inter partes festgestellt, dass § 2 Abs. 2 S. 1 der PO mit Art. 12 GG und Art. 3 Abs. 1 GG nicht vereinbar ist. Entscheidend war dafür nicht, dass die Entscheidung über die Erste Juristische Prüfung wegen des laufenden Widerspruchsverfahrens noch nicht bestandskräftig ist. Dr. Arne-Patrik Heinze hatte unter anderem auch vorgetragen, dass es verfassungswidrig ist, wenn die Verleihung des Titels allein davon abhängig ist, wann Studierende den Antrag stellen. Wer den Antrag auf Verleihung des Titels vor dem endgültigen Nichtbestehen der Ersten Juristischen Prüfung gestellt hätte, hätte diesen auch bei späterem endgültigen Nichtbestehen der Ersten Juristischen Prüfung behalten dürfen, während derjenige, der den Antrag bei identischen erbrachten Leistungen nach dem endgültigen Nichtbestehen der Ersten Juristischen Prüfung gestellt hätte, den akademischen Grad nicht verliehen bekommen hätte.
Darüber hinaus argumentierte der Rechtsanwalt für Prüfungsrecht Dr. Heinze, dass es unions- und verfassungswidrig ist, die Verleihung des Bachelors mit eigenen Prüfungsleistungen überhaupt vom Bestehen der Ersten Juristischen Prüfung mit gesonderten Leistungen abhängig zu machen. Die Argumentation der Antragsgegnerin, die insbesondere auf Rechtsprechung abstellte, in welcher der Abschluss Bachelor im Hinblick auf BAföG diskutiert wurde, erachtete das Verwaltungsgericht unserer Argumentation folgend als unerheblich, weil einerseits der direkte sachliche Bezug zur Verleihung des Bachelor of Laws fehlt und andererseits nicht alle Studierenden, die der akademische Titel Bachelor of Laws betrifft, auch BAföG-Leistungen beziehen.
Nach alledem ist der akademische Titel Bachelor of Laws Studierenden der Universität zu verleihen, soweit sie die erforderlichen Leistungen erbracht haben.
[title] Mündliche Verhandlung des Bundesverfassungsgerichtes vom 14. April 2015 in Sachen Betreuungsgeld („Herdprämie“) [/title]
Am 14.04.2015 wurde vor dem Bundesverfassungsgericht über das Betreuungsgeld (sogenannte „Herdprämie“) verhandelt. Bereits im Jahr 2013 war seitens der SPD-regierten Freien und Hansestadt Hamburg ein Antrag auf abstrakte Normenkontrolle eingereicht worden. Ein Urteil wird in diesem Sommer erwartet. Insgesamt ist die Thematik des Betreuungsgeldes gut geeignet als Vorlage für einen Klausursachverhalt zumindest im Ersten Staatsexamen – eine Klausur zur Frauenquote lief bereits Ende 2013 in Hamburg –, sodass in der Folge die wesentlichen Probleme dargestellt werden sollen.
Das Betreuungsgeld ist im Zweiten Abschnitt des Gesetzes zum Elterngeld und zur Elternzeit (Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz – BEEG) geregelt. Es ist eine Sozialleistung, die für die Betreuung von nach dem 01. August 2012 geborenen Kindern „zu Hause“ für maximal 22 Monate, im Regelfall vom 15. bis zum 36. Lebensmonat, in Höhe von derzeit € 150,00 pro Monat gezahlt wird. Der Anspruch auf den Bezug des Betreuungsgeldes besteht unabhängig von einer Erwerbstätigkeit und der Höhe des Einkommens der Eltern des betreuten Kindes. Er besteht bereits, soweit kein öffentliches Betreuungsangebot in Form des Besuches einer Kindertagesstätte genutzt wird.
In materieller Hinsicht wurde argumentiert, die Leistung eines Betreuungsgeldes komme in zweifacher Hinsicht einer „Fernhalteprämie“ gleich.
Das Gesetz kann zum einen gegen Art. 3 GG verstoßen, da es der Gleichberechtigung von Mann und Frau entgegenstehen könnte. Berichten zufolge wird das Betreuungsgeld zu 95% von Frauen bezogen, lediglich zu 5% von Männern. Zwar ist es aufgrund der geringen Höhe des Betreuungsgeldes zweifelhaft, ob die Leistung generell zu einer Zurückdrängung der Frau an den Herd führt bzw. eine Verfestigung der ohnehin bestehenden Betreuungssituation unterstützt. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass die Möglichkeit des Bezuges von Betreuungsgeld für einkommensschwache Familien einen Anreiz bilden kann, ihre Kinder nicht in eine Kindertagesstätte zu schicken, in der möglicherweise bestehende Defizite des Kindes im sozialen oder sprachlichen Bereich erkannt und ausgeglichen werden könnten. Dies käme tatsächlich einer Fernhaltung gleich, der keine staatliche Unterstützung zukommen sollte.
Des Weiteren wird diskutiert, ob für die Nichtnutzung einer staatlichen, aus Steuergeldern finanzierten Infrastrukturleistung (der „Kita“) ein Ausgleich vergeben werden darf. Dieses Modell war bislang in der Bundesrepublik nicht vorgesehen.
Das ausschlaggebende Argument für die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes scheint allerdings auf der formellen Ebene verankert zu sein – so wird in dem Antrag die Unzuständigkeit des Bundes für die Gesetzgebung gerügt.
Grundsätzlich obliegt die Gesetzgebung gemäß Art. 70 Abs. 1 GG den Ländern, soweit die Gesetzgebungskompetenz nicht dem Bund zugewiesen ist.
Im Bereich der ausschließlichen Gesetzgebung des Bundes haben die Länder nach Art. 71 GG die Gesetzgebungskompetenz nur, wenn und soweit sie in einem Bundesgesetz dazu ermächtigt wurden. Die Gegenstände der ausschließlichen Bundesgesetzgebung sind in Art. 73 GG geregelt. Die ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes für die Regelung des Betreuungsgeldes ergibt sich aus den Titeln des Art. 73 Abs. 1 GG nicht.
Im Rahmen der konkurrierenden Gesetzgebung im Sinne des Art. 72 GG haben die Länder die Befugnis zur Gesetzgebung bezüglich der in Art. 74 Abs. 1 GG aufgeführten Bereiche, solange und soweit der Bund von seiner Gesetzgebungsbefugnis nicht bereits Gebrauch gemacht hat. Bezüglich einiger Titel liegt die Gesetzgebungskompetenz gemäß Art. 72 Abs. 2 GG nur beim Bund, soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts- und Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundeseinheitliche Regelung erforderlich machen. Abweichende Regelungen wiederum können durch die Länder lediglich nach Maßgabe des Art. 72 Abs. 3 und Abs. 4 GG getroffen werden.
Die Regelungen des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes sollen gemäß den Artt. 72 Abs. 1 und 2, 74 Abs. 1 Nr. 7 GG („öffentliche Fürsorge“) der konkurrierenden Gesetzgebung unterfallen, da im Schwerpunkt die Förderung der Familie stehe.
Zum einen wird bezweifelt, dass eine einkommensunabhängige Leistung dem Bereich der öffentlichen Fürsorge zugehört, zumal eine „Fürsorge“ bereits dem Wortsinn nach nur in Bereichen möglich erscheint, in denen eine „Hilfsbedürftigkeit“ angenommen werden kann.
Zum anderen hat der Bund die Gesetzgebungskompetenz lediglich inne, soweit dies zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet erforderlich ist. Zur Sicherung und Stärkung des föderalistischen Prinzips ist Art. 72 Abs. 2 GG jedoch eng auszulegen, sodass zur Annahme einer Bundesgesetzgebungskompetenz erhebliche Nachteile für das gesamtstaatliche Interesse drohen müssen. Worin diese Nachteile liegen, ist ungewiss. Das Betreuungsgeld ist nicht an das vorhandene Angebot freier Plätze in Kindertagesstätten geknüpft, sodass die Leistung durch die Notwendigkeit eines Ausgleiches regionaler Unterschiede gerechtfertigt werden könnte.
Insgesamt ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes daher aus vielen Gründen mit Spannung zu erwarten.
In einer Aufsichtsarbeit ist stets die formelle vor der materiellen Verfassungsmäßigkeit zu prüfen, ein abweichender Aufbau wurde lediglich aufgrund des Schwerpunktes der aktuellen Diskussion gewählt.
[title] Kopftuch I und II: Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes vom 24. September 2003 - 2 BvR 1436/02 (2. Senat) – und vom 27. Januar 2015 - 1 BvR 471/10 bzw. 1 BvR 1181/10 (1. Senat) [/title]
Die sogenannten Kopftuchfälle sind inzwischen zu einem wahren Klassiker in Examensprüfungen geworden. In dem kürzlich veröffentlichten Beschluss des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichtes vom 27. Januar 2015 werden die Wertungen des Urteils des Zweiten Senates vom 24. September 2003 nicht nur modifiziert, sondern es wird ihnen in einer Form widersprochen, durch die eigentlich eine gemeinsame Streitentscheidung im Sinne des § 16 BVerfGG gerechtfertigt wäre.
I. Kernaussagen des Urteils des Zweiten Senates des Bundesverfassungsgerichtes vom 24.09.2003 – 2 BvR 1436/02
Der ersten Kopftuchentscheidung lag die Verfassungsbeschwerde einer jungen baden-württembergischen Lehrerin muslimischen Glaubens zugrunde, der die Berufung in ein Beamtenverhältnis auf Probe als Lehrerin an Grund- und Hauptschulen mit der Begründung versagt wurde, dass ihr die erforderliche Eignung aufgrund ihres Entschlusses, auch in der Schule und im Unterricht ein Kopftuch zu tragen, fehle. Sie rügte die Verletzungen der Menschenwürde im Sinne des Art. 1 Abs. 1 GG, der Allgemeinen Handlungsfreiheit im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG, des Gleichheitssatzes im Sinne des Art. 3 Abs. 1 und 3 Satz 1 GG, der Religionsfreiheit im Sinne des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG sowie der beamtenrechtlichen Regelungen des Art. 33 Abs. 2 und 3 GG.
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichtes sah die Verfassungsbeschwerde aufgrund einer Verletzung des Rechtes auf gleichen Zugang zu jedem öffentlichem Amt im Sinne des Art. 33 Abs. 2 GG in Verbindung mit der Religionsfreiheit im Sinne des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG und in Verbindung mit Art. 33 Abs. 3 GG als begründet an, da eine notwendige, hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage für den Eingriff fehlte.
Dabei ist sich der Zweite Senat des durch die angegriffenen Entscheidungen hervorgerufenen Zwiespaltes der Beschwerdeführerin, das angestrebte öffentliche Amt auszuüben oder dem von ihr als verpflichtend angesehenen religiösen Bekleidungsgebot Folge zu leisten, bewusst, und sieht in diesem einen Eingriff in die Religionsfreiheit.
Letztlich aus demselben Grund wurde auch in Art. 33 Abs. 3 GG eingegriffen, nach dem die Zulassung zu öffentlichen Ämtern unabhängig von dem religiösen Bekenntnis ist und niemandem aus der Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einem Bekenntnis oder zu einer Weltanschauung ein Nachteil erwachsen darf.
Widerstreitende Verfassungsgüter sind in diesem Zusammenhang der staatliche Erziehungsauftrag im Sinne des Art. 7 Abs. 1 GG, der grundsätzlich unter Wahrung der religiösen Neutralität zu erfüllen ist, das elterliche Erziehungsrecht im Sinne des Art. 6 Abs. 2 GG sowie die negative Glaubensfreiheit der Schulkinder im Sinne des Art. 4 Abs. 1 GG.
In seiner Abwägung betont der Zweite Senat, dass die dem Staat gebotene religiös-weltanschauliche Neutralität nicht als eine distanzierende im Sinne einer strikten Trennung von Staat und Kirche, sondern als eine offene und übergreifende, die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen ist. Durch Art. 4 Abs. 1 und 2 GG wird in positivem Sinn die Sicherung eines Raumes für die aktive Betätigung der Glaubensüberzeugung und die Verwirklichung der autonomen Persönlichkeit auf weltanschaulich-religiösem Gebiet erzielt. Der Staat dürfe lediglich keine gezielte Beeinflussung im Dienste einer bestimmten politischen, ideologischen oder weltanschaulichen Richtung betreiben oder sich durch von ihm ausgehende oder ihm zuzurechnende Maßnahmen ausdrücklich oder konkludent mit einem bestimmten Glauben oder einer bestimmten Weltanschauung identifizieren und dadurch den religiösen Frieden in einer Gesellschaft von sich aus gefährden. Auch verwehrt es der Grundsatz religiös-weltanschaulicher Neutralität dem Staat, Glauben und Lehre einer Religionsgemeinschaft als solche zu bewerten. In dieser Offenheit bewahre der freiheitliche Staat des Grundgesetzes seine religiöse und weltanschauliche Neutralität (BVerfG, Urteil vom 24.09.2003 - a.a.O., Rn 43 f.).
Letztlich handelt es sich zwar bei der Religionsfreiheit um ein vorbehaltlos gewährleistetes Grundrecht, deren Einschränkungen sich lediglich aus der Verfassung selbst (Grundrechte Dritter, Gemeinschaftswerte von Verfassungsrang) ergeben könnten, eine Einschränkung eines vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechtes bedarf allerdings einer gesetzlichen Grundlage. Diese ist vom Landesgesetzgeber zu schaffen, wobei die regionale Schultradition und Zusammensetzung der Bevölkerung sowie ihre religiöse Verwurzelung zu berücksichtigen sind. Eine gesetzliche Grundlage gab es zum damaligen Zeitpunkt in Baden-Württemberg noch nicht, sodass die Verfassungsbeschwerde begründet war.
Insgesamt werden die verschiedenartigen Funktionen sowie die Wirkung des Kopftuches, die im Vergleich zum Kruzifix als religiöses Symbol nicht aus sich selbst heraus entfaltet wird, sondern erst in Verbindung mit der jeweiligen Trägerin und ihrem Verhalten, umfassend und problembewusst herausgearbeitet und den Interessen von Schulkindern und Eltern gegenübergestellt.
Die Richter Jentsch, Di Fabio und Mellinghoff gaben ein Minderheitsvotum ab, in dem sie die Erforderlichkeit zumindest einer Übergangsregelung zur Schaffung einer gesetzlichen Grundlage darlegen, zumal sonst beamtenrechtlich vollendete Tatsachen ohne Möglichkeit einer späteren Korrektur geschaffen würden.
II. Kernaussagen des Beschlusses des Ersten Senates des Bundesverfassungsgerichtes vom 27. Januar 2015 - 1 BvR 471/10 bzw. 1 BvR 1181/10
Der zweiten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes lag die Verfassungsbeschwerde zweier Lehrerinnen muslimischen Glaubens zugrunde, die sich weigerten, Kopftuch bzw. eine ersatzweise getragene Baskenmütze als Kopfbedeckung in der Schule und im Unterricht abzulegen, obwohl im Schulgesetz des Landes Nordrhein-Westfalen, in dem sie tätig waren, ein generelles Verbot derartiger religiös motivierter Bekleidung enthalten war.
Es wurden die Verletzungen der Gleichheitssätze des Art. 3 Abs. 1 und 3 GG sowie des Art. 33 Abs. 2 und 3 GG, jeweils auch in Verbindung mit Art. 9 EMRK und Art. 14 EMRK, sowie der Religionsfreiheit im Sinne des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG in Verbindung mit Art. 12 Abs. 1 GG, Art. 33 Abs. 2 und 3 GG und des allgemeinen Persönlichkeitsrechts im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG durch die angegriffenen Gerichtsentscheidungen gerügt. Weiter wurde durch die Beschwerdeführerinnen vorgetragen, durch eine unterbliebene Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) durch das letztinstanzlich entscheidende Bundesarbeitsgericht (BAG) in ihrem Recht auf den gesetzlichen Richter im Sinne des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verletzt zu sein.
Die maßgebliche Vorschrift des § 57 Abs. 4 des Schulgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (SchulG NW) lautet:
„(4) 1 Lehrerinnen und Lehrer dürfen in der Schule keine politischen, religiösen, weltanschaulichen oder ähnliche äußere Bekundungen abgeben, die geeignet sind, die Neutralität des Landes gegenüber Schülerinnen und Schülern sowie Eltern oder den politischen, religiösen oder weltanschaulichen Schulfrieden zu gefährden oder zu stören. 2 Insbesondere ist ein äußeres Verhalten unzulässig, welches bei Schülerinnen und Schülern oder den Eltern den Eindruck hervorrufen kann, dass eine Lehrerin oder ein Lehrer gegen die Menschenwürde, die Gleichberechtigung nach Artikel 3 des Grundgesetzes, die Freiheitsgrundrechte oder die freiheitlich-demokratische Grundordnung auftritt. 3 Die Wahrnehmung des Erziehungsauftrags nach Artikel 7 und 12 Abs. 6 der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen und die entsprechende Darstellung christlicher und abendländischer Bildungs- und Kulturwerte oder Traditionen widerspricht nicht dem Verhaltensgebot nach Satz 1. 4 Das Neutralitätsgebot des Satzes 1 gilt nicht im Religionsunterricht und in den Bekenntnis- und Weltanschauungsschulen.“
Durch § 58 S. 2 SchulG NW wird der Anwendungsbereich dieser Vorschrift noch erweitert:
„1 Sonstige im Landesdienst stehende pädagogische und sozialpädagogische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wirken bei der Bildungs- und Erziehungsarbeit mit. 2 § 57 Abs. 4 und 6 gilt entsprechend.“
Im Folgenden stellte der Erste Senat fest, dass § 57 Absatz 4 Satz 3 SchulG NW mit Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG und mit Art. 33 Abs. 3 GG unvereinbar und damit nichtig sei; § 57 Abs. 4 S. 1 und 2 SchulG NW sowie § 58 S. 2 SchulG NW allerdings, soweit sie religiöse Bekundungen durch das äußere Erscheinungsbild betreffen, nach Maßgabe der Entscheidungsgründe mit dem Grundgesetz vereinbar seien, zumal die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung bestehe.
III. Problematik der verfassungskonformen Auslegung in der zweiten Entscheidung
Stellt der Erste Senat zunächst fest, eine gebietsbezogene, möglicherweise auch landesweite Untersagung des Tragens eines Kopftuches komme von Verfassungs wegen für öffentliche bekenntnisoffene Gemeinschaftsschulen nur dann in Betracht, wenn eine hinreichend konkrete Gefahr für die entgegenstehenden Schutzgüter im gesamten Geltungsbereich der Untersagung besteht, bleibt er in der nachfolgenden Güterabwägung nicht konsequent.
Betrachtet der Erste Senat das landesweite Kopftuchverbot des § 57 Abs. 4 S. 1 SchulG NW als unverhältnismäßig (Rn 101, 112), verwundert die weitere Vorgehensweise, im Wege der verfassungskonformen und einschränkenden Auslegung der Norm eine Verfassungsmäßigkeit herzustellen, wobei der Senat gleichsam diejenigen Abwägungen trifft, die eigentlich dem Landesgesetzgeber vorbehalten sein sollten.
So wurde das Merkmal der Eignung, den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität zu gefährden oder zu stören, dahingehend eingeschränkt, dass von der äußeren religiösen Bekundung nicht nur eine abstrakte, sondern eine hinreichend konkrete Gefahr für die in § 57 Abs. 4 S 1 SchulG NW genannten Schutzgüter ausgehen muss. Die konkrete Gefahr sei zu belegen und zu begründen. Das Tragen eines islamischen Kopftuchs begründe eine hinreichend konkrete Gefahr im Regelfall nicht. Vom Tragen dieser Kopfbedeckung geht für sich genommen noch kein werbender oder gar missionierender Effekt aus (BVerfG, Beschluss vom 27.01.15 – a.a.O., Rn 116).
Die verfassungskonforme Auslegung diene der Vermeidung einer Normverwerfung und es werde im Rahmen der Schonung der Gesetzgebung Rücksicht auf den Bestand anderer Anwendungsbereiche der Norm genommen (Rn 117). Allerdings ist daran zu erinnern, dass die entsprechenden Regelungen erst als Reaktion auf die erste Kopftuchentscheidung erlassen wurden und das Tragen eines Kopftuches wohl den Regelfall der Normanwendung darstellt. Diesen Einwänden tritt der Erste Senat jedoch nicht entgegen, sondern verweist darauf, dass lediglich der Anwendungsbereich der Vorschrift stark verringert werde.
§ 57 Abs. 4 S. 3 SchulG NW stelle indes (eindeutiger) eine gleichheitswidrige Benachteiligung aus Gründen des Glaubens und der religiösen Anschauungen dar (Art. 3 Abs. 3 S. 1 GG, Art. 33 Abs. 3 GG).
In ihrem abweichenden Sondervotum verweisen die Richter Schluckebier und Herrmanns zum einen darauf, dass der Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers in nicht hinnehmbarer und dem Grundgedanken des Urteils des Zweiten Senats (siehe oben) widersprechender Weise beschnitten wurde. Des Weiteren begründen sie die Verfassungsmäßigkeit der in Frage stehenden Regelung des § 57 Abs. 4 S. 3 SchulG NW und fügen hinzu, die in Satz 1 der Vorschrift enthaltene Einschränkung sei verfassungsrechtlich unbedenklich, soweit die Bekundungswirkung hinreichend stark sei. Dies gelte auch im Hinblick auf eine lediglich bestehende abstrakte Gefahr für den Schulfrieden, zumal das Schulverhältnis durch Unausweichlichkeit geprägt sei. Zugegeben wird allerdings, dass allein das Tragen eines Kopftuches nicht geeignet sei, die Versagungsbestimmungen zu erfüllen. Daher sei die Verfassungsbeschwerde begründet.
IV. Fazit
Bereits in dem Sondervotum der Richter Schluckebier und Herrmanns ist angeklungen, dass es sich nicht mehr nur um einen Zwiespalt der entscheidenden Senate des Bundesverfassungsgerichtes handelt, sondern um eine Divergenzlage, in der die gemeinsame Entscheidung im Sinne des § 16 BVerfGG gerechtfertigt wäre. Diese ist erforderlich, soweit ein Senat in einer Rechtsfrage von einer Rechtsauffassung des anderen Senates oder des Plenums abweichen will, die in einer früheren Entscheidung des anderen Spruchkörpers enthalten war und für diese Entscheidung auch maßgeblich war. Dass der Erste Senat sich anstelle des Landesgesetzgebers setzt, unterliegt indes weiteren verfassungsrechtlichen Bedenken.
[title] Entscheidungsbesprechung: „Flüchtlingsheim“ ? VG Hamburg, Beschluss vom 22. Januar 2015, AZ: 9 E 4775/14 [/title]
Nicht unumstritten war der Plan der Freien und Hansestadt Hamburg, im ehemaligen Kreiswehrersatzamt an den Sophienterrassen im Stadtteil Harvestehude Flüchtlinge unterzubringen. Am 22. Januar 2015 entschied das VG Hamburg über den Antrag im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes, dass die aufschiebende Wirkung des Widerspruches gegen die Baugenehmigung angeordnet wird.
Mag der Beschluss des Verwaltungsgerichtes Hamburg auch viele Diskussionen und ein großes mediales Echo hervorgerufen haben, ist die Entscheidung des Gerichts zumindest aus juristischer Sicht nachvollziehbar getroffen worden. Um dies darzulegen, werden kurz die Besonderheiten der Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes zu wiederholen sein, bevor der Blick auf die maßgeblichen baurechtlichen Vorschriften gerichtet werden wird:
I. Einstweiliger bzw. vorläufiger Rechtsschutz
Grundsätzlich ist zwischen Klageverfahren und Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz zu unterscheiden. Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz betreffen sogenannte Eilfälle, also Konstellationen, in denen der Ausgang eines möglicherweise langwierigen Hauptsacheverfahrens nicht abgewartet werden kann, ohne dass die Unzumutbarkeitsgrenze für den Antragsteller überschritten werden würde. Diese „Eilbedürftigkeit“ ist bei Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes stets zu hinterfragen.
Es besteht bei den Eilverfahren allerdings noch immer die Möglichkeit, dass die Entscheidung des Hauptsacheverfahrens anders ausfällt – insoweit erklärt sich die Bezeichnung „einstweiliger“ oder „vorläufiger“ Rechtsschutz. Die Hauptsacheentscheidung – auch das ist den Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gemein – darf grundsätzlich auch nicht durch die Eilentscheidung vorweggenommen werden.
Im einstweiligen Rechtsschutz sind regelmäßig die Verfahren der §§ 80, 80a und 123 VwGO zu unterscheiden. Während ein Verfahren nach § 80a VwGO nur in Drei-Personen-Konstellationen denkbar ist (vergleiche Überschrift!), werden von Anträgen nach § 80 VwGO und § 123 VwGO Zwei-Personen-Verhältnisse erfasst. Aus § 123 Abs. 5 VwGO ergibt sich, dass Anträge nach § 123 VwGO subsidiär zu jeden der §§ 80 bzw. 80a VwGO sind.
§ 80 VwGO ist – wie im Übrigen auch § 80a VwGO – im 8. Abschnitt der Verwaltungsgerichtsordnung, „Besondere Vorschriften für Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen“, geregelt. Aus der Abschnittsüberschrift kann bereits erschlossen werden, dass die Voraussetzung beider Verfahren die Existenz eines Verwaltungsaktes im Sinne des § 35 (Landes-)VwVfG ist. Für Verfahren nach § 80a VwGO geht dies ggf. noch deutlicher aus der (Klammer-)Überschrift „Verwaltungsakte mit Doppelwirkung“ hervor.
1. Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO
Grundsätzlich muss es sich also um eine Zwei-Personen-Eilkonstellation handeln, in der ein Verwaltungsakt existiert.
Um die Bedeutung der Regelung des § 80 Abs. 5 VwGO,
„Auf Antrag kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung in den Fällen des Absatzes 2 Nr. 1 bis 3 ganz oder teilweise anordnen, im Falle des Absatzes 2 Nr. 4 ganz oder teilweise wiederherstellen. Der Antrag ist schon vor Erhebung der Anfechtungsklage zulässig. Ist der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen, so kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung kann von der Leistung einer Sicherheit oder von anderen Auflagen abhängig gemacht werden. Sie kann auch befristet werden.“,
vollständig zu erfassen, sind zunächst die Absätze 1 und 2 der Vorschrift einzubeziehen. Vergessen werden darf auch nicht, in welchem Abschnitt der Verwaltungsgerichtsordnung sich die Regelung befindet: Bei den „Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen“. Auch Anfechtungs- und Verpflichtungsklagen sind nur statthaft, wenn entweder ein Verwaltungsakt aufgehoben oder aber der Erlass eines solchen erstrebt werden soll.
Annahme 1: Es wurde ein Verwaltungsakt erlassen.
Annahme 2: Gegen diesen Verwaltungsakt will der Adressaten vorgehen.
Der Adressat wird nun einen Widerspruch oder die Klage erheben. Es wird sich dabei um eine Anfechtungsklage handeln, da der Adressat eines Verwaltungsaktes gegen diesen lediglich vorgehen wollen wird, wenn er durch ihn „beschwert“ ist und er ihn beseitigen will.
In § 80 Abs. 1 VwGO wird angeordnet:
„Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei rechtsgestaltenden und feststellenden Verwaltungsakten sowie bei Verwaltungsakten mit Doppelwirkung (§ 80a).“
Sobald der Adressat also einen Widerspruch oder die Anfechtungsklage erhoben hat, ist die beschwerende Wirkung des Verwaltungsaktes suspendiert. Der Adressat „hat seine Ruhe“ bis über die Angelegenheit abschließend entschieden ist.
Allerdings gibt es auch zu diesem Grundsatz Ausnahmen, die in Absatz 2 Satz 1 der Vorschrift benannt werden:
„Die aufschiebende Wirkung entfällt nur
1. bei der Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten,
2. bei unaufschiebbaren Anordnungen und Maßnahmen von Polizeivollzugsbeamten,
3. in anderen durch Bundesgesetz oder für Landesrecht durch Landesgesetz vorgeschriebenen Fällen, insbesondere für Widersprüche und Klagen Dritter gegen Verwaltungsakte, die Investitionen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen betreffen,
4. in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse oder im überwiegenden Interesse eines Beteiligten von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen oder über den Widerspruch zu entscheiden hat, besonders angeordnet wird.“
Sobald eine dieser Ausnahmen einschlägig ist, ist der Adressat des Verwaltungsaktes also trotz seiner Gegenmaßnahmen den Nachteilen ausgesetzt, die ihm auferlegt wurden.
Zweckmäßig ist es, ihm bei besonderer Eilbedürftigkeit die Chance zu geben, die Angelegenheit sofort von dem Gericht der Hauptsache überprüfen zu lassen. Diese Möglichkeit wird durch § 80 Abs. 5 VwGO (siehe oben) gegeben.
Bezüglich der Konstellationen des Absatzes 2 S. 1 Nr. 1-3 kann die aufschiebende Wirkung, die bisher nicht bestand, angeordnet werden. Sollte eine sofortige Vollziehung des Verwaltungsaktes nach Nr. 4 angeordnet worden sein, kann die aufschiebende Wirkung durch das Gericht wiederhergestellt werden.
Die Überprüfung erfolgt regelmäßig allerdings lediglich nach Lage der Akten („summarisch“) ohne weitere Beweiserhebung. Damit auf diesem Weg keine abschließenden Tatsachen geschaffen werden können, darf die Hauptsache grundsätzlich nicht vorweg genommen werden.
II. Anträge nach § 80a VwGO
Ein Verwaltungsakt ergeht meist gegenüber einem Adressaten. Dieser wird entweder durch den Verwaltungsakt begünstigt oder betroffen im Sinne einer „Belastung“ (vgl. oben – Anfechtungs- oder Verpflichtungskonstellation). Denkbar ist es aber, dass der Verwaltungsakt Drittwirkung entfaltet. Durch Vorhaben, die dem einen genehmigt werden, können Dritte belastet werden und umgekehrt.
In diesen Konstellationen kann ein Antrag nach § 80a VwGO statthaft sein:
(1) Legt ein Dritter einen Rechtsbehelf gegen den an einen anderen gerichteten, diesen begünstigenden Verwaltungsakt ein, kann die Behörde
1. | auf Antrag des Begünstigten nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 die sofortige Vollziehung anordnen, | |
2. | auf Antrag des Dritten nach § 80 Abs. 4 die Vollziehung aussetzen und einstweilige Maßnahmen zur Sicherung der Rechte des Dritten treffen. |
(2) Legt ein Betroffener gegen einen an ihn gerichteten belastenden Verwaltungsakt, der einen Dritten begünstigt, einen Rechtsbehelf ein, kann die Behörde auf Antrag des Dritten nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 die sofortige Vollziehung anordnen.
(3) Das Gericht kann auf Antrag Maßnahmen nach den Absätzen 1 und 2 ändern oder aufheben oder solche Maßnahmen treffen. § 80 Abs. 5 bis 8 gilt entsprechend.“
Die Anträge können – soweit der eingelegte Rechtsbehelf ein Widerspruch ist ? bei der Behörde gestellt werden (vgl. Absatz 1 der Vorschrift) oder bei Gericht (vgl. Absatz 3 der Vorschrift, der sodann mitzuzitieren ist).
a) Konstellation I: § 80a 1 Nr. 1 VwGO [iVm § 80a Abs. 3 VwGO]
Ein Antrag nach § 80a Abs. 1 Nr. 1 VwGO ist möglich, wenn ein Dritter einen Rechtsbehelf gegen einen Verwaltungsakt einlegt, durch den er belastet wird, aber durch den der eigentliche Adressat begünstigt wird.
Durch die Einlegung des Rechtsbehelfes des Dritten wird nämlich der Verwaltungsakt suspendiert, § 80 Abs. 1 VwGO. Der Begünstigte hat so lange keinen „Nutzen“, bis über den Rechtsbehelf entschieden wird. Er kann allerdings seinerseits versuchen, die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO herbeizuführen – indem er einen Antrag nach § 80a Abs. 1 Nr. 1 VwGO stellt.
b) Konstellation II: § 80a Abs. 1 Nr. 2 VwGO [iVm § 80a Abs. 3 VwGO]
Auch in der Konstellation des § 80a Abs. 1 Nr. 2 VwGO legt ein Dritter einen Rechtsbehelf gegen einen Verwaltungsakt ein, der ihn belastet, aber seinen Adressaten begünstigt. Dieser Verwaltungsakt war allerdings nach § 80 Abs. 2 VwGO sofort vollziehbar, was bedeutet, dass der Rechtsbehelf des Dritten keinen Suspensiveffekt hatte.
Der Dritte verfolgt demnach das Ziel, den Suspensiveffekt wiederherzustellen und begehrt mit seinem Antrag die Wiederanordnung desselben.
c) Konstellation III: § 80a Abs. 2 VwGO [iVm § 80a Abs. 3 VwGO]
Das gedankliche Pendant zu den Anträgen nach Absatz 1 ist in Absatz 2 der Vorschrift geregelt. In dieser Konstellation hat ein Betroffener (Wortlaut beachten!) einen belastenden Verwaltungsakt erhalten. Der Betroffene ist der Adressat. Durch diesen Verwaltungsakt werden aber für einen Dritten begünstigende Wirkungen entfaltet. Der Adressat bzw. Betroffene wehrt sich nun gegen den Verwaltungsakt, der ihn belastet, und legt einen Rechtsbehelf ein. Damit wird gemäß § 80 Abs. 1 VwGO der Verwaltungsakt suspendiert, bis über die Angelegenheit abschließend entschieden wurde. Der begünstigte Dritte kann „sich“ des Suspensiveffektes „entledigen“, indem er einen Antrag nach § 80a Abs. 2 VwGO stellt und daraufhin die sofortige Vollziehung nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO angeordnet wird.
3. Antrag nach § 123 VwGO
Ein Antrag nach § 123 VwGO hat dem Wortlaut der Vorschrift nach einen wesentlich weiteren Anwendungsbereich. Mit diesem Antrag kann – so scheint es ? jede denkbare Sicherung oder Regelung erstrebt werden. Daher ist in § 123 Abs. 5 VwGO die Subsidiarität dieses Antrages gegenüber derjenigen der §§ 80, 80a VwGO angeordnet worden. Zu unterscheiden ist die Sicherungsanordnung nach Absatz 1 Satz 1 der Vorschrift von der Regelungsanordnung nach Absatz 1 Satz 2 der Vorschrift:
„Auf Antrag kann das Gericht, auch schon vor Klageerhebung, eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint.“
Aus dem Wortlaut ergibt sich außerdem, dass der Antrag nur bei Gericht gestellt werden kann.
Eine Sicherungsanordnung wird erstrebt, wenn es darum geht, den bisherigen Zustand („Status Quo“) zu erhalten.
Die Regelungsanordnung hat hingegen eine offensive Zielsetzung – der Antragsteller begehrt die vorläufige Regelung eines Zustandes, der bislang ungeregelt ist – er begehrt insoweit sogar eine Erweiterung seines Rechtskreises.
4. Statthafter Antrag im Fall des „Flüchtlingsheims“
Nach dieser kurzen Systematisierung sollte es möglich sein, die Antragsart herauszufiltern, die der besprochenen Entscheidung zugrunde liegt. Dabei muss sich der Sachverhalt noch einmal vor Augen geführt werden:
Die Freie und Hansestadt Hamburg will im ehemaligen Kreiswehrersatzamt eine Flüchtlingsunterkunft errichten. Dazu bedarf es einer Genehmigung, die dem Bezirksamt Eimsbüttel von der Baubehörde auch erteilt wird. Gegen diese Genehmigung wenden sich einige Eigentümer der angrenzenden Grundstücke, da sie Nachteile durch die Gegenwart der Flüchtlinge befürchten und die Genehmigung im Übrigen für rechtswidrig halten. Gemäß § 212a BauGB haben Widerspruch und Anfechtungsklage eines Dritten gegen die bauaufsichtliche Zulassung eines Vorhabens keine aufschiebende Wirkung.
Das Bezirksamt erhält also eine Baugenehmigung von der Baubehörde (=einen Verwaltungsakt), durch die es begünstigt wird. Die Anwohner sind beschwert und wollen dagegen vorgehen. Es handelt sich also um eine Drei-Personen-Konstellation.
Wird zunächst das „Grundverhältnis“, also der Verwaltungsakt, der von einer Behörde an einen Adressaten erlassen wird, betrachtet, ist weiterhin festzuhalten, dass der Verwaltungsakt ein begünstigender ist. Es ist jedenfalls ein Antrag nach § 80a Abs. 1 VwGO iVm § 80a Abs. 3 VwGO zu wählen.
Werden obige Ausführungen berücksichtigt, fällt die Entscheidung zwischen Nr. 1 und Nr. 2 nicht mehr schwer:
Gemäß § 212a BauGB iVm § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO besteht eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass durch Widerspruch und Anfechtungsklage der Verwaltungsakt (= die Genehmigung) suspendiert wird, und das Ziel der Dritten muss es gewesen sein, die Vollziehung auszusetzen und damit die aufschiebende Wirkung herzustellen.
Ein Antrag nach § 80a Abs. 1 Nr. 2 VwGO iVm § 80a Abs. 3 VwGO war statthaft.
II. Baurecht
Der Entscheidung liegt folgender Sachverhalt zugrunde (Auszug ab Seite 5 des Beschlusses):
„Am 01. September 2014 beantragte die Beigeladene eine Genehmigung zur Umnutzung des Gebäudes … für die öffentlich-rechtliche Unterbringung. Nach der Baubeschreibung soll das Gebäude für die Unterbringung von bis zu 220 Personen in 23 Wohneinheiten mit 2 bis 8 Zimmern und Größen von 50 m² bis 240 m² aufgeteilt werden. Wohnungen sind in allen Geschossen vorgesehen und sollen jeweils mit Küche und Bad ausgestattet werden. Es sind zwei PKW-Stellplätze sowie mehrere Fahrradstellplätze vorgesehen. Nach der Betriebsbeschreibung soll für Gemeinschaftszwecke ein zentraler Aufenthaltsbereich im Souterrain zur Verfügung stehen. Zu diesem sollen ein knapp 34 m² großer Raum für eine Fahrrad-AG und eine Spenden-AG, ein 120 m² großer unterteilbarer Raum als Gemeinschaftsraum, eine Teeküche sowie zwei Arbeitsräume mit PC/Internetanschlüssen gehören. Ein weiterer Raum soll als Kinderspielzimmer eingerichtet werden, ein Raum ist als Abstellraum für Fahrräder und Kinderwagen vorgesehen. Im Erdgeschoss sind neben Wohnungen auch Räume für die Verwaltung vorgesehen. Westlich des Gebäudes … sind auf dem Grundstück ein Spielfeld von 150 m², ein größerer Spielplatz sowie Flächen für ein Urban Gardening – Projekt vorgesehen. Die von dem u-förmigen Gebäude eingeschlossene Freifläche … soll den Bewohnern der Einrichtung nicht zur Nutzung, sondern lediglich als Fluchtweg zur Verfügung stehen.
Die Einrichtung soll der öffentlich-rechtlichen Unterbringung von Wohnungslosen oder Flüchtlingen in einer Wohnunterkunft aufgrund des SOG in Verbindung mit dem SGB II/XII beziehungsweise dem Asylbewerberleistungsgesetz dienen. Für Asylsuchende soll es sich um eine Folgeunterkunft handeln…
Mit Bescheid vom 26. September 2014 erteilte die Antragsgegnerin der Beigeladenen die beantragte Baugenehmigung. Die Bau- und Betriebsbeschreibung sind Gegenstand der Baugenehmigung geworden. Eine Nachbarbeteiligung erfolgte vor Erteilung der Baugenehmigung nicht. Beschränkungen hinsichtlich der vorgesehenen Nutzung oder hinsichtlich der Geltungsdauer der Baugenehmigung enthält diese nicht.
Die Antragsteller erhoben mit Schreiben vom 13. Oktober 2014 Widerspruch. Unter demselben Datum haben sie den vorliegenden Antrag gestellt. Die Antragsteller machen geltend, sie würden durch das Vorhaben in ihrem Gebietserhaltungsanspruch verletzt. Bei dem Gebiet handele es sich planungsrechtlich um ein besonders geschütztes Wohngebiet… Das genehmigte Vorhaben sei als soziale Einrichtung zu qualifizieren. Daran ändere die Unterteilung der Einrichtung in abgeschlossene Wohneinheiten nichts. Auch wenn die Unterbringung wohnähnlich erfolge, handele es sich nicht um Wohnen im bauplanungsrechtlichen Sinn. Es bleibe eine soziale Einrichtung… Einen Verstoß des Vorhabens gegen das Rücksichtnahmegebot machen die Antragsteller dagegen ausdrücklich nicht geltend.
Die Antragsgegnerin vertritt die Auffassung, dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit der Baugenehmigung müsse schon deswegen der Vorrang gegenüber dem Aussetzungsinteresse der Antragsteller eingeräumt werden, weil die Antragsgegnerin angesichts des starken Zustroms von unterzubringenden Flüchtlingen darauf angewiesen sei, die Möglichkeiten für die Unterbringung von Flüchtlingen zügig zu erweitern. Auch werde der Widerspruch der Antragsteller voraussichtlich erfolglos bleiben. Bei dem Vorhaben handele es sich nicht um eine soziale Einrichtung, sondern um eine im besonders geschützten Wohngebiet ohne Weiteres zulässige Einrichtung, die dem Wohnen diene. Es handele sich nicht um eine klassische Gemeinschaftsunterkunft. Angesichts der Unterteilung der Einrichtung in 23 abgeschlossene Wohneinheiten, in denen die Unterzubringenden vorwiegend in familiären Zusammenhängen untergebracht werden sollen, entspreche die geplante Nutzung praktisch einer Wohnnutzung.
Ergänzend vertritt die Antragsgegnerin die Auffassung, die Antragsteller … könnten sich auf einen Gebietserhaltungsanspruch nicht berufen, weil sie ihre Grundstücke selber planwidrig nutzten [in Form eines Architekturbüros und einer Unternehmensberatungsgesellschaft mbH]. Außerdem sei die Schutzklausel in der Gebietsfestsetzung funktionslos geworden. Das Plangebiet werde entgegen der Festsetzung vielfach gewerblich genutzt. Schließlich macht die Antragsgegnerin geltend, das Vorhaben sei jedenfalls im Wege der Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB genehmigungsfähig.“
1. Einordnung
Im Rahmen des Eilverfahrens sind das öffentliche Interesse der Antragsgegnerin an der Vollziehbarkeit und das private Interesse der Antragsteller an der Aussetzung der Vollziehung der Genehmigung gegeneinander abzuwägen. Maßgeblich für die Beurteilung des Überwiegens des Vollziehungsinteresses ist, ob die Genehmigung bei summarischer Prüfung rechtmäßig erscheint. An der Vollziehbarkeit einer höchstwahrscheinlich rechtswidrigen Genehmigung kann aus rechtstaatlichen Gründen nämlich kein Interesse bestehen.
Eine „Genehmigung zur Umnutzung“ ergeht gemäß § 58 Abs. 1 HBauO in Hamburg als Baugenehmigung im Sinne des § 72 HBauO. Eine Baugenehmigung ist zu erteilen, wenn dem Vorhaben keine öffentlich-rechtlichen Vorschriften entgegen stehen.
Das Verwaltungsgericht hatte sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob die angegriffene Baugenehmigung aller Voraussicht nach rechtswidrig ist, da sich die Antragsteller auf einen Gebietserhaltungsanspruch berufen können, bzw. das Vorhaben auch im Übrigen hinsichtlich der Art und des Umfangs der Nutzung nicht genehmigungsfähig ist.
Die nachfolgende Abwägung entspricht somit den Überlegungen, die in der Bearbeitung eines Klausurfalles im Rahmen der Begründetheit anzustellen wären.
2. Gebietserhaltungsanspruch
Die Antragsteller haben sich auf den Gebietserhaltungsanspruch berufen.
a) Herleitung des Gebietserhaltungsanspruches
Ausgangspunkt der Überlegungen zum Gebietserhaltungsanspruch ist die Annahme, dass die Bewohner eines Baugebietes eine „nachbarliche Schicksalsgemeinschaft“ bilden.
Da alle Bewohner den Einschränkungen ihres Grundrechtes auf Eigentum im Sinne des Art. 14 Abs. 1 GG durch den Bebauungsplan bzw. weitere Vorschriften unterworfen sind, besteht nicht nur ein nachbarliches Austauschverhältnis, sondern sie können ihrerseits darauf vertrauen, dass auch andere Bewohner des Gebietes die geltenden Vorschriften einhalten. Der Gebietserhaltungsanspruch ist somit ein Abwehranspruch gegen gebietsunverträgliche, d.h. weder allgemein noch ausnahmsweise zulässige Vorhaben.
b) Anwendung des Gebietserhaltungsanspruches
Die Antragsteller durften sich auch auf den Gebietserhaltungsanspruch berufen.
aa) eigene plankonforme Nutzung
Aus der Herleitung des Gebietserhaltungsanspruches folgt bereits, dass der Anspruchsteller seinerseits sein Grundstück plangemäß nutzen muss. Anderenfalls würde das nachbarliche Austauschverhältnis gestört.
Die Sophienterrassen bzw. die Grundstücke der Antragsteller sowie das Kreiswehrersatzamt liegen in einem besonders geschützten Wohngebiet im Sinne des § 10 Abs. 4 BPVO bzw. § 3 BauNVO. Im Zusammenhang mit dem alten Planungsrecht gelten einige Vorschriften der Baupolizeiverordnung von 1938 fort. Diese betreffen die sogenannten Baustufenpläne, die mit Erlass des Baugesetzbuches in einfache Bebauungspläne überführt wurden und weiter Geltung entfalten, solange sie nicht durch neue Bebauungspläne überplant sind.
Einer der Antragsteller betreibt ein Architekturbüro, ein weiterer eine Unternehmensberatung, die als GmbH organisiert ist. Soweit freiberufliche Tätigkeiten bzw. diesen ähnliche Tätigkeiten in dem Plangebiet unzulässig wären, dürften sich die Anspruchsteller nicht auf den Gebietserhaltungsanspruch berufen, da sie selbst sich nicht an die geltenden Beschränkungen der Eigentumsfreiheit im Sinne des Art. 14 Abs. 1 GG hielten.
In § 13 BauNVO wird angeordnet, dass in den Baugebieten nach den §§ 2 - 4 BauNVO Räume und in den Baugebieten nach den §§ 4a – 9 BauNVO sogar Gebäude zur Berufsausübung freiberuflich Tätiger und in ähnlicher Weise ihren Beruf Ausübender zugelässig sind.
Per definitionem haben Freie Berufe die persönliche, eigenverantwortliche und fachlich unabhängige Erbringung von Dienstleistungen höherer Art im Interesse der Auftraggeber und der Allgemeinheit auf der Grundlage besonderer beruflicher Qualifikation oder schöpferischer Begabung zum Inhalt. Zu den Freien Berufen gehören im Wesentlichen heilkundliche, rechts- bzw. wirtschaftsberatende, kulturelle oder technische bzw. naturwissenschaftliche Berufe. Auch die Berufsbilder des Architekten und des Unternehmensberaters unterfallen diesem Berufsbild.
Soweit die Unternehmensberatung jedoch in der Gesellschaftsform der GmbH organisiert ist, bestehen Zweifel an der Anwendbarkeit des § 13 BauNVO. Am Markt handelt nämlich gerade die Kapitalgesellschaft vertreten durch die Geschäftsführung, nicht aber die dahinter stehenden Personen. Von einer persönlichen und eigenverantwortlichen Leistungserbringung kann daher zunächst nicht ausgegangen werden.
Allerdings betreibt der Antragsteller eine sogenannte „Ein-Mann-GmbH“, die als solche mit seiner Person stark verknüpft ist. Die GmbH wird darüber hinaus in seinem Wohnhaus betrieben. Die von dem Antragsteller gewählte Rechtsform widerspricht somit ausnahmsweise nicht der Anwendbarkeit des § 13 BauNVO.
Entscheidend ist ferner, ob die Tätigkeiten des Architekten bzw. des Unternehmensberaters in einem besonders geschützten Wohngebiet zulässig sind. Zur Bestimmung der Zulässigkeit von Vorhaben und Nutzungen in besonders geschützten Wohngebieten kann § 3 BauNVO analog angewandt werden, da auch nach dem alten Planungsrecht in Baustufenplänen nach der Baupolizeiverordnung Festsetzungen zum Schutz der Eigenart als Wohngebiet getroffen werden konnten.
Das reine Wohngebiet im Sinne des § 3 BauNVO dient dem Wohnen. Zulässig sind gemäß Absatz 2 der Vorschrift Wohngebäude und Anlagen zur Kinderbetreuung, die den Bedürfnissen der Bewohner des Gebietes dienen. Ausnahmsweise können gemäß Absatz 3 der Vorschrift Läden und nicht störende Handwerksbetriebe, die zur Deckung des täglichen Bedarfs der Bewohner des Gebietes dienen, sowie kleine Betriebe des Beherbergungsgewerbes und sonstige Anlagen für soziale Zwecke sowie den Bedürfnissen der Bewohner dienende Anlagen für kirchliche, kulturelle, gesundheitliche und sportliche Zwecke zugelassen werden.
Gründe, aus denen sich ergeben kann, dass die Ausübung der Berufe störend in dem Gebiet wirkt, konnten nicht festgestellt werden.
bb) Zwischenergebnis
Damit dürfen beide Antragsteller sich auf den Gebietserhaltungsanspruch berufen.
3. Art und Umfang des Vorhabens
Maßgeblich für das Eingreifen des Abwehranspruches ist weiterhin, dass das Vorhaben nach seiner Art oder seinem Umfang unzulässig wäre.
Hinsichtlich der Festsetzungen im Baustufenplan ging das Verwaltungsgericht Hamburg von folgenden Angaben aus, die den weiteren Überlegungen zugrunde gelegt werden:
„Die Grundstücke liegen im Geltungsbereich des Baustufenplans H vom 6. September 1955. Dieser enthält als Schutzvorschriften u.a. für diese Grundstücke ein Verbot jeder Art gewerblicher und handwerklicher Betriebe, Läden und Wirtschaften sowie Leuchtreklame. Das Bauvolumen von 1939 darf nicht vergrößert werden. Es darf nur an der Baulinie gebaut werden. Vor- und Hintergärten sind zu erhalten und von jeglicher Bebauung freizuhalten.“ (vgl. Seite 11 des Beschlusses)
a) Funktionslosigkeit der Festsetzungen
Die Antragsgegnerin wandte ein, die Festsetzungen seien funktionslos geworden.
Von einer Funktionslosigkeit eines Bebauungsplanes bzw. eines Baustufenplanes, der in einen einfachen Bebauungsplan überführt wurde, ist immer dann auszugehen, wenn die tatsächlichen Verhältnisse in dem beplanten Gebiet in einer Art und Weise von den Festsetzungen abweichen, dass auf absehbare Zeit davon ausgegangen werden kann, dass eine Rückentwicklung derart, dass die Festsetzungen mit den faktischen Gegebenheiten übereinstimmen, ausgeschlossen erscheint und dies derart offensichtlich ist, dass kein schutzwürdiges Interesse an der Aufrechterhaltung der Bestimmungen bestehen kann.
Bei der Ortsbesichtigung haben sich dem Beschluss zufolge keine Anhaltspunkte ergeben, aus denen sich eine derartige Funktionslosigkeit ableiten ließe. Eine weitergehende Prüfung ist in dem Eilverfahren nicht erfolgt und musste auch nicht erfolgen. Es ist davon auszugehen, dass die Festsetzung eines besonders geschützten Wohngebietes mit den eingangs benannten Beschränkungen nicht funktionslos geworden ist.
b) Art des Vorhabens
Für die Frage, ob das Vorhaben seiner Art nach in dem Gebiet zulässig ist, ist § 3 BauNVO als Vorschrift für reine Wohngebiete heranzuziehen (siehe oben). Es müsste sich somit um eine Wohnnutzung handeln oder eine Ausnahme eingreifen.
aa) Wohnnutzung
Bei der geplanten Umnutzung könnte eine Wohnnutzung anzunehmen sein, zumal Wohnungslose und Flüchtlinge ein Obdach in den Sophienterrassen finden sollen. In der erteilten Genehmigung wird überdies von der Schaffung von „Wohneinheiten“ ausgegangen.
Das Verwaltungsgericht Hamburg lehnte eine Wohnnutzung allerdings zu Recht ab.
Unter einer „Wohnung“ wird ein räumlich abgeschlossener Bereich verstanden, der dem einzelnen ein selbstgewählter Zufluchtsort und auf Dauer angelegter Mittelpunkt der privaten Lebensgestaltung ist.
Flüchtlinge und Obdachlose nehmen also keine Wohnung, soweit sie sich in einem ihnen zugewiesenen Arreal aufhalten und dort nächtigen, ohne dass es darauf ankommen kann, ob die Unterbringung über Tag gewährleistet ist. Sie befinden bereits sich nicht freiwillig in dem ihnen zugewiesenen Gebäude, da sie die Unterkunft nicht selbst gewählt haben. Die Unterbringung ist auch nicht auf Dauer angelegt. Die untergebrachten Personen sind weiterhin als Obdach- und damit auch als Wohnungslose zu qualifizieren. Eine Flüchtlingsunterbringung dient ebensowenig dem dauerhaften Verbleib.
Schließlich ist innerhalb der „Wohneinheiten“ nur eine sehr eingeschränkte Form der Privatheit möglich. Zwar ist eine familienweise Unterbringung erwünscht gewesen – festgesetzt wurde diese nicht. Eine derartige Festsetzung kann auch nicht erfolgen, ohne dass der Zweck des Vorhabens insgesamt gefährdet würde.
Es handelt sich mithin nicht um eine Wohnnutzung.
bb) Anlage für soziale Zwecke
Es handelt sich aber um eine Anlage für soziale Zwecke – die vorübergehende Unterbringung von Obdachlosen und Flüchtlingen, bis diese eine Wohnung finden ?, die ausnahmsweise zugelassen werden könnte.
c) Umfang des Vorhabens
Allerdings muss zur Beurteilung der ausnahmsweisen Zulässigkeit des Vorhabens auch sein Umfang berücksichtigt werden.
Der Hauptzweck des reinen Wohngebietes darf durch die ausnahmsweise soziale Nutzung nicht gefährdet werden. Ergänzend ist zu berücksichtigen, dass der Plangeber bereits die gewerbliche Nutzung beschränkt hat. Darin kommt der besondere Schutz des Wohnzweckes abermals zum Ausdruck.
Genehmigt wurde die Unterbringung von bis zu 220 Personen in 23 Wohneinheiten. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend berechnet, dass derartige Verhältnisse sogar dasjenige überstiegen, das bei einer Wohnnutzung üblicherweise zu erwarten wäre. Dazu kommen ferner weitere Gemeinschaftsbereiche innerhalb und außerhalb des Gebäudes.
Das Vorhaben hat in dem Gebiet keine untergeordnete Bedeutung mehr, sondern es ist in hohem Maße geeignet, Störungen in Bezug auf das Wohnen hervorzurufen, die über dasjenige hinausgehen, was in einem reinen Wohngebiet zulässig ist.
In den genehmigten Umfang ist das Vorhaben nicht zulässig.
Auf die Möglichkeit einer Befreiung nach § 31 Abs. 2 BauGB ist nicht einzugehen, da diese nicht erteilt worden ist.
III. Fazit
Aller Voraussicht nach ist die Baugenehmigung rechtswidrig und wird in einem Hauptsacheverfahren aufgehoben werden. An der Vollziehbarkeit derselben kann aus rechtstaatlichen Gründen jedenfalls kein Interesse bestehen.
Auch wenn die Aufnahme von Flüchtlingen und die Unterbringung von Wohnungslosen aus menschlicher Sicht unerlässlich und in hohem Maße förderungswürdig sind, bestehen an der fachlichen Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichtes Hamburg keine Zweifel.